Die Befragung der Zeit by Verena Stefan
Autor:Verena Stefan [Stefan, Verena]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783312006229
Herausgeber: Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München 2014
veröffentlicht: 2015-09-18T16:00:00+00:00
Lina hätte gern ein Geschäft gehabt, ein kleines Café vielleicht, sie wollte selber wirtschaften. Es hätte unbedingt etwas mit Kaffee sein müssen, Kaffee ist ihr das Liebste auf der Welt. Die Frau, die den Melitta-Kaffeefilter erfunden hat, das war eine Geschäftsfrau nach ihrem Sinn. Sie ärgerte sich dermaßen über den Kaffeesatz in der Tasse, dass sie eines Tages eine Erfindung machte. Einfach so. Woher wohl die Idee für eine Erfindung kam? Ein Blitz aus heiterem Himmel, sagte sich Lina, einen Geistesblitz hat sie wohl gehabt. Der fährt ein, und man tut etwas Ungewöhnliches. Vielleicht kam die Idee für eine Erfindung auch nur durch Ausprobieren. Eine Erfindung musste ja praktisch sein. Diese Melitta nahm eines Morgens einen Metallbecher aus dem Schrank und schlug mit einem dicken Nagel Löcher in seinen Boden. Dann nahm sie ein Löschblatt aus dem Schulheft ihres Sohnes und kleidete den Becher innen damit aus. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein, als sie dann den Kaffee aufgoss und sah, dass es funktionierte! Sie ging persönlich in die Haushaltsgeschäfte, die Kinder lieferten die Filterpakete mit einem Leiterwagen aus. Alle mussten mitmachen.
Lina hätte genug Ideen für ihr Café gehabt. Es war zu spät. Dass sie fast blind war, daran hatte sie sich gewöhnt, aber die Schmerzen, die ihr neuerdings wie geschliffen in den Bauch fuhren, ließen sie manchmal laut aufschreien, so dass man es im ganzen Haus hörte. Wenigstens war sie nicht eingesperrt.
Julius wollte sie einmal nach Münsingen in die Irrenanstalt einliefern lassen, hysterische Weiber wie sie sollte man einsperren!, schrie er herum. Sie hatte das Hackbrett nach ihm geworfen. Der Streit brach nach Manuels Geburt an Floras Kindbett aus.
Sogar in einem Krankenhausbett muss sie sich auftakeln!, dachte Lina, als sie mit Julius zu Besuch kam, thront im Bett, als sei sie Königin, mit Perlenkette, angemalten Lippen, roten Fingernägeln. Flora hatte dem Mädchen und der Köchin schon Bescheid gegeben, sie wollte die Eltern unbedingt zu sich nach Hause zum Essen schicken, in jenes Esszimmer, in dem man keinen Bissen herunterbrachte, man erkannte ja nicht einmal, was man auf dem Teller hatte, und wagte auch nicht zu fragen.
Charme hatte sie, ihre Flora, das musste man ihr lassen. In die Berner Gesellschaft einzuheiraten, nur einen Dorfarzt zum Vater zu haben und, noch schlimmer, eine ehemalige Serviertochter als Mutter, dafür musste eine schon ein Fuder Charme mitbringen. Als ob wir Korbmacher und Kesselflicker seien!, sagte Lina ein Leben lang mit unverminderter Entrüstung, so haben die auf uns herabgesehen.
Julius wollte nach dem Krankenhausbesuch gemütlich mit Lina im Bahnhofsbuffet essen gehen. Er lehnte also dankend ab, bei Flora zu Hause zu speisen, und sie spielte die Beleidigte. Dann gab Julius noch eins drauf und ging auf Lina los.
Ob sie extra ihm zuleide dieses Schlottergewand angezogen habe? Immer dieses dunkle Zeug, er könne sich so nicht mit ihr sehen lassen, sie habe doch genug schöne Kleider im Schrank!
Lina fühlte den Dämon in sich hochsteigen, der, wenn nichts mehr ging, als Schrei aus ihr stürzte, wie ein Kugelblitz, der durchs Haus rollt, zur Vordertür herein und zur Hintertür hinaus, dann flossen die Tränen, und es war wieder einmal vorbei.
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